Offener Lesekreis

Leibhaftig

von Christa Wolf

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Darf man so über eine Krankheit zum Tode, über die Grenzzonen menschlichen In-der-Welt- Seins schreiben

 

So, wie es Christa Wolf in ihrer lange erwarteten neuen Prosaarbeit getan hat? Mit dieser charmanten Heiterkeit, diesem geradezu übermütigen Erzähltemperament? Haben die kunstvollen labyrinthischen Verschlingungen von Bewusstseinspartikeln und Fieberphantasien, die harmonisch geschwungene Architektur aus Innenräumen noch etwas mit der Selbsterfahrung der Hauptfigur, einer etwa sechzigjährigen Frau, zu tun, die in höchster Gefahr schwebt, während ihre Seele sich, aufgeteilt in zwei Erzählstimmen, mit vitalem Witz Gehör verschafft? Man darf.

Ein literarischer Text darf alles. Dieser Text – man könnte ihn Bewusstseinsprosa nennen, wenn dieser Begriff angesichts der Entmachtung des realistischen Erzählens nicht obsolet geworden wäre – schneidet tief ins Fleisch der Sprache, «zum Eiterherd, dorthin, wo der glühende Kern der Wahrheit mit dem Kern der Lüge zusammenfällt». Aber ihr Blut ist Kunstblut. Die gelassene Selbstdistanz ist ästhetisch sublimiert. So schreibt nur über Todesgefahr, wer noch einmal mit heiler Haut davongekommen ist.

 

Zu Beginn von Christa Wolfs neuer knapp 200-seitiger Erzählung „Leibhaftig“ wird eine Frau fortgeschrittenen Alters ins Krankenhaus eingeliefert. Sie hat, wie die Erzählerinnen in „Christa T.“, „Kindheitsmuster“, „Sommerstück“ oder „Was bleibt“, auffällige Ähnlichkeiten mit Christa Wolf. Sie muss zunächst unter dramatischen Umständen wegen „Herzrasen“, Tachykardie, behandelt werden. Dann jedoch erfährt der Leser, dass diese Beschwerden nur Symptom einer lange verschleppten Blinddarmentzündung sind. Eine erste Operation ist nicht erfolgreich, ein versteckter Eiterherd verursacht hohes Fieber, weitere Operationen sind unvermeidlich. Erst Wochen später gelingt es, die lebensbedrohlichen Erreger zu identifizieren und die Patientin allmählich wiederherzustellen.

 

In jenen bangen Wochen, die sie – durch Fieberschübe und Therapieversuche gleichermaßen gequält – im Hospital zubringt, entscheidet sich auch das Schicksal von Urban, eines ehemaligen Freundes der Kranken. Die beiden kennen sich seit Jahrzehnten, haben sich jedoch auseinandergelebt, nachdem Urban in der DDR Karriere machte und den Machthabern des Landes widerstandslos zu Willen war. Kurz bevor die Erzählerin ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hat sie erfahren, dass Urban verschwunden ist. Nach ihrer Gesundung wird ihr mitgeteilt, dass er sich erhängt habe und erst nach Wochen in einem entlegenen Waldstück gefunden wurde.

 

Mit dieser Erzählung hat Christa Wolf die Grenzen ihrer Sprache und Erzählkunst und zugleich dessen, was sich über den inneren Zustand der späten DDR noch Sinnvolles sagen lässt, literarisch noch einmal weit hinausgeschoben in Bereiche des Nichtsichtbaren, Nichthörbaren, Nichtfassbaren; über die Grenzen hinaus, wo sich Bewusstes und Unterbewusstes vermischen und wo die Gespenster wohnen, denen wir es zu verdanken haben, dass die Vergangenheit, nach einem Wort von Christa Wolf, einfach nicht totzukriegen ist.

 

Quellen:
Uwe Wittstock | Die Welt 23.02.2002
Beatrix Langner, NZZ 23.02.2002

 

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OrtHospizverein Konstanz
Talgartenstraße 2
78462 Konstanz
Datum18.05.2017
Zeit19:00 – 20:30
KostenEintritt frei, über Spenden zur Kostendeckung freuen wir uns sehr.
Kurzinfo zum BuchChrista Wolf:
Leibhaftig
suhrkamp taschenbuch Frankfurt 2009
ISBN: 3630620647

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